Ich saß in einem Auto, in Mexiko, kurz bevor ich das Leben und die Leute, die mir so lieb geworden waren, verlassen musste, um woanders ohne großen Enthusiasmus wieder neu anzufangen, weil’s eben nicht anders ging. Es ging nicht um Leben oder Tod; es ging auch nicht um Gesundheit oder Krankheit, aber es ging um mein Glück, das sich anfühlte, als würde es mir gerade wie Sand zwischen den Fingern verrinnen, und ich wusste nicht, wie ich es wieder zurückgewinnen sollte, wenn es erstmal weg war. Es ist nun mal sau hart, ein Leben und Leute, die man liebt, zu verlassen und woanders wieder neu anzufangen, aus dem einzigen Grund, dass man eben muss. Etwas starb, und ich nahm Abschied.
Ich saß auf der Rückbank eines Taxis und schaute schweigend aus dem Fenster, während Jacaranda, Rosa Morada und Lluvia de Oro – die Frühlingsbäume, die unsere Straßen lila, gelb und rosa säumen und Guadalajara bunt erleuchten, vor meinen Augen flimmerten wie ein pastellenes Kaleidoskop. Es hatte etwas heilendes, besänftigendes, und ließ mich meine Schwermut über den Abschied kurz vergessen. Und es war ein bisschen, als würden die Bäume mir etwas zuflüsterten, das ich im selben Moment auch wusste, und das von irgendwoher kam, wo schon unzählige Welten untergangen und wieder neu entstanden waren. Sie flüsterten: You’ll be ok. You’ll be ok. Und ich wusste, noch während sie es sagten: I’ll be ok.
Ich wusste – trotz allem, was da an Zusammenbruch auf mich wartete – da war ein widererwartendes Gutgehen in mir drin, das alle fiesen Karten, die mir das Leben entgegen spielen würde, übertrumpfte, und dieses bunte, lichte Ok-Sein würde nicht weggehen, mich überall hin begleiten, nicht weil ich es dabei hatte, sondern weil ich es war.
da war ein widererwartendes Gutgehen in mir drin, das alle fiesen Karten, die mir das Leben entgegen spielen würde, übertrumpfte.
Ich hätte mir „I’ll be ok“ später auf ein Post-it schreiben und für dunkle Tage an meinen Badezimmerspiegel hängen können, wäre im selben Atemzug meiner unerwarteten Sorglosigkeit nicht etwas passiert, das mich gewissermaßen vom Hocker riss und das mir zu groß für ein Post-it erschien.
Denn in dem Moment, in dem mir mein Egal-Was-Ok-Sein schwante, wurde etwas anderes in mir wach, das sonst das Sagen hatte, wohl nur ganz kurz eingenickt war, diese eine Sekunde des Frühlingsrausches verschlafen hatte, dann aber sofort sah, was los war, und darüber völlig aus der Fassung geriet. Und weil ich immer fühle, was alle anderen fühlen, geriet ich selber sofort aus der Fassung. Ich war von einer auf die andere Sekunde in heller Panik über mein mögliches Glücklichsein. In den ganzen Wochen zuvor, in denen ich Angst hatte vor Trennung, Leid und Herzschmerz, weil ich den Ort verlassen musste, der sich wie mein Zuhause anfühlte, hatte ich nicht ein einziges Mal so große Angst vor irgendetwas, als davor, dass es mir trotz allem gegebenenfalls gutgehen könnte. Wie bitte?
Ich musste leiden. Das tut man nun mal, dachte ich zu Hause, ordnungsgemäß, wenn man von dem getrennt ist, das man liebt – egal ob Mensch, Tier, Ort oder Ding; leidet man nicht, dann ist es mit der Liebe entweder nicht weit her, oder man ist örtlich eben nicht voneinander getrennt. Das hat man mir so in hunderten von tausenden Serien, Romanen, Filmen, Märchen, Theaterstücken, Kaffeekränzchen, Schulhofplaudereien und Sozialkundestunden plausibel aufgezeigt und erfolgreich als universellen Standard eingepflanzt. Würde ich nicht leiden, während etwas kaputt ging, was mir lieb war, wäre das ein Beweis dafür, dass es mir niemals lieb gewesen war. Alles andere wäre nicht normal, fast anstößig, irgendwie verboten, im Grunde kriminell – auf keinen Fall jedoch sicher.
Ich musste leiden. Das tut man nun mal, dachte ich zu Hause, ordnungsgemäß, wenn man von dem getrennt ist, das man liebt.
Doch was war das, im Auto, in dieser kleinen Lücke, in der mein Verstand kurz schlief und in der ich gar nichts dachte, sondern nur etwas wusste: I’ll be ok. Ich ahnte irgendwie, ich kann lieben, auf diese einmalige Weise, wie ich Mexiko liebe, und ich kann glücklich sein, auch wenn ich einen Ozean entfernt bin im grauen Paris. Es war nur so eine Ahnung. Dass ich imstande bin, mein Glück so groß, so knallhart ist, dass es das kann, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, sowas von mühelos, obwohl ich selbst keinen blassen Schimmer habe, wie es das macht.
Ich fragte mich, ob es sein kann, dass wir vor einer Sache echt große Angst haben: vor Glück, für das wir keine Gründe haben, das nicht plausibel ist, über das noch keine allgemeingültige Befugnis erteilt worden ist; vor Glück, das zur Verfügung steht, obwohl es da nicht sein dürfte. Es macht uns Angst, weil es erahnen lässt, dass da etwas von uns ist, von dem wir bis dato nichts wissen. Das coole Sachen kann, ganz ohne unser Einverständnis. Da ist etwas, gleißend in seinem Licht, das außerhalb dessen liegt, was wir von uns erwartet hätten, von uns kennen, außerhalb des Kreises, den wir und andere um uns gezogen haben und in dessen Radius liegt, was wir mit „ich“ beschriftet haben – außerhalb unseres Selbstbildes, das in solchen Taxi-Momenten schon mal einnicken, aufschrecken und sich empören kann, sich zu Tode bedroht fühlt, wenn wir auf einmal ahnen, dass wir größer sind als wir dachten, und mit dem wir aufhören müssen uns zu verwechseln.
Was, wenn es mir gut ginge, dachte ich, wenn ich sogar erfüllt wäre und glücklich, in dem Moment, in dem ich 10.000 km getrennt lebe von dem Ort, den ich so sehr liebe, dass ich mir nichts anderes mehr für mich vorstellen kann? Es würde heißen, dass ich bedingungslos liebe. Dass ich frei bin. Und dass meine Freude kein Symptom meiner Umstände ist – sondern mir eigen. Für mich war das Gefühl, diese Art von Freiheit zu schmecken, mehr als unheimlich. Mein Verstand insistierte: Ich kann nicht, ich kann nicht, völlig schwachsinnig, zu groß, zu weit, zu unbekannt, nichts festzuhalten, was wenn… Und mein Herz sagte: Alter, wir machen’s doch schon.
Ich fragte mich, ob es sein kann, dass wir vor einer sache echt große Angst haben: Vor Glück, für das wir keine Gründe haben.
An diesem Tag bemerkte ich vielleicht zum ersten Mal, dass es wirklich oft zwei Möglichkeiten gibt, wenn sich etwas verändert, nicht nur eine; und es war mit Sicherheit das erste Mal, dass ich den Mut hatte, die Möglichkeit zumindest in Erwägung zu ziehen, die sich für meinen Verstand gefährlicher anfühlte als mich aufs Bekanntere und Kontrollierbarere zu verlassen, nämlich aufs Leiden: Ich ließ die Tür einen Spalt weit offen für das, was ich noch nicht über mich wusste, für die Möglichkeit, dass es mir gutgehen würde, obwohl ich nicht den geringsten Grund dafür sah.
Wenn Sachen zusammenbrechen, ist das komischerweise oft das Beste, was uns passieren kann. Nicht für die Person, die wir waren, sondern für die Person, die aus uns werden will. Vertrauen haben in die Möglichkeit, dass das Bild, das wir von uns haben, nur ein Ausschnitt ist, ein Blickwinkel – manchmal eine Verzerrung – von der, die wir wirklich sind, und dass Ressourcen in uns stecken, die nur darauf warten, gebraucht zu werden: Das ist nicht Pseudo-Optimismus, um Schwierigkeiten zu entkommen, sondern Ehrfurcht und Respekt uns selbst und unserem Werden gegenüber.
Ich glaube, nicht auf unseren Vorstellungen zu beharren, fordert Mut, und ich versuche immer öfter auf diese Art mutig zu sein. Es ist nie ganz einfach, aber immer der Mühe wert. Mitten in Veränderung und im Zusammenbruch von Sicherheiten schauen wir auf das einzige, von dem wir dachten, es sei verlässlich – unsere Identität – und erlauben ihr auch, sich zu verändern. Das heißt manchmal, dass wir auf unsere Ausreden verzichten – dafür, uns klein zu machen und in der Sicherheit und im Komfort unserer Hilflosigkeit zu verharren. Das ist ein riesen Ding, und ich glaube nicht, dass es mit dem Verstand geht, sondern nur mit dem Herzen. Und uns zu trauen, die Tür nicht nur angelehnt zu lassen, sondern sie ein Stück weit aufzumachen, unserem eigenen Licht entgegenzublinzeln, verdient die allergrößte Behutsamkeit.
Bild: David Clode // Unsplash